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„Wer einsam ist, der hat es gut …“

AutorIn

Monika Tempel, wissenschaftliche Beirätin

Das behauptet jedenfalls Wilhelm Busch in einem launigen Gedicht. „Gemeinsam sind wir stark.“ So lautet das Motto von Alpha1 Deutschland für das Jubiläumsjahr 2021. Ein scheinbarer Widerspruch! Welche Aussage trifft denn nun zu?

Wer sich mit der Bedeutung von sozialer Unterstützung bei chronischen Erkrankungen (wie beispielsweise Alpha-1-Antitrypsin-Mangel) befasst, wird erstaunt feststellen: Es gibt keine einfache Antwort auf diese durchaus komplexe Fragestellung. Ich lade deshalb alle Leser ein, die Gemengelage schrittweise zu entwirren und  Forschungsergebnisse unvoreingenommen zu deuten. Sinnvoll ist es, zunächst ein paar grundlegende Begriffe zum Thema „soziale Unterstützung“ zu klären.

Einsam oder allein?

Diese beiden Zustände sind keinesfalls identisch! Worin die Unterschiede bestehen, zeigt der genaue Blick auf die relevanten Einflussgrößen.

Einsamkeit

Einsamkeit ist das subjektive Gefühl des Alleinseins. Es ist eine schmerzhafte Erfahrung und wird durch die bewusste Wahrnehmung eines Mangels hervorgerufen. Die vorübergehende oder dauerhafte Abwesenheit von geliebten Menschen (im Fachjargon: von bedeutsamen Anderen) erzeugt Stress und Leiden – kurzum: das Gefühl von Einsamkeit.

Soziale Isolation

Soziale Isolation beschreibt das objektive Fehlen von sozialen Kontakten. Hierbei gilt es zu unterscheiden zwischen:

  • Alleinleben
  • wenigen (oder fehlenden) Sozialkontakten
  • fehlender sozialer Beteiligung (im Fachjargon: fehlendes soziales Engagement)

Verschiedene Kombinationen dieser Faktoren sind möglich:

  • beispielsweise kann ein Alleinlebender wenig (bis keine) Sozialkontakte haben und sich nicht sozial beteiligen
  • oder eine Alleinlebende hat täglich mehrere Sozialkontakte und beteiligt sich regelmäßig an unterschiedlichen sozialen Aktivitäten

Gerne dürfen Sie, liebe Leser, sich an dieser Stelle weitere Kombinationen vorstellen.

Soziale Unterstützung

Die Unterstützung durch ein soziales Netzwerk (Familie, Freunde, Nachbarn, andere Betroffene in Selbsthilfegruppen, …) liefert psychologische und materielle  Hilfestellung, damit Patienten besser mit ihrer Erkrankung und deren Auswirkungen im Alltag zurechtkommen.

Soziale Unterstützung wird unterteilt in:

  • emotionale Unterstützung (z. B. Einfühlungsvermögen, Austausch über Erfahrungen)
  • instrumentelle Unterstützung (z. B. Hilfe beim Umgang mit täglichen Herausforderungen durch die Krankheit)
  • Aufmerksamkeit (z. B. Zuwendung, konstruktives Feedback)
  • informative Unterstützung (z. B. Rat, Hinweise, Empfehlungen, Tipps)

Soziale Unterstützung umfasst also ein ganzes Bündel von unterschiedlichen Hilfestellungen. Daraus wird ersichtlich: Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, Patienten eine angemessene soziale Unterstützung zu gewähren.

Fazit: Alleinsein bedeutet nicht unbedingt Einsamkeit – und viele soziale Kontakte schützen nicht unbedingt vor einem Mangel an sozialer Unterstützung.

Soziale Schutzfaktoren und soziale Risikofaktoren – was ist das genau?

Für die Allgemeinbevölkerung gilt: Ein Mangel an sozialen Beziehungen, ausgeprägte soziale Isolation und unzureichende soziale Unterstützung sind nachgewiesene Risikofaktoren für eine erhöhte Sterblichkeit. Vereinfacht gesagt: Einsamkeit kann tödlich sein! Gilt das auch für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen? Hier liefern die wenigen Studien sehr komplexe Ergebnisse.

Illustration soziale Gruppen

Befunde für soziale Unterstützung und soziale Netzwerke

Befund 1: Positive soziale Unterstützung zeigt einen Zusammenhang mit weniger Krankenhausaufenthalten und weniger Exazerbationen, besserem Gesundheitszustand
und besseren Selbstmanagement-Fähigkeiten.
Befund 2: Die Größe der sozialen Netzwerke zeigt einen positiven Zusammenhang mit Selbstwirksamkeitserfahrung, Krankheitsschwere, Übungstoleranz und Atemnot.

Fazit: Positive soziale Unterstützung hat einen günstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Ein größeres soziales Netzwerk verbessert zudem die Selbstmanagement-Fähigkeiten von Patienten (mit COPD).

Es scheint jedoch wichtig zu sein, nicht nur auf die Kennzeichen von sozialen Netzwerken (Größe, Struktur, Häufigkeit von Kontakten, Dauer, Erreichbarkeit, Intimität des Austauschs) zu blicken. Weitere Bedingungen und Ereignisse im Leben von COPD-Patienten müssen ebenfalls berücksichtigt werden (z. B. Umzug, Verlust eines geliebten Menschen).

Außerdem darf folgende wichtige Erkenntnis nicht außer Acht gelassen werden: Soziale Unterstützung kann sowohl positiven als auch negativen Einfluss auf das  Selbstmanagement ausüben. Entscheidend sind die erlebte Qualität der sozialen Unterstützung und die Zufriedenheit mit sozialen Netzwerken.

Die folgenden Studienergebnisse beleuchten diese Zusammenhänge.
Befund 1: Patienten, die zufriedener mit ihrem sozialen Netzwerk sind, erleben mehr positive Gefühle. Sie erfahren bessere emotionale Unterstützung und zeigen weniger
kognitive Verschlechterungen.
Befund 2: Unangemessene soziale Unterstützung beeinträchtigt dagegen Selbstwert- und Unabhängigkeitsgefühl von Patienten.
Befund 3: Angst- und Depressions-Symptome werden durch positive soziale Unterstützung verringert.
Befund 4: Durch negative soziale Interaktionen (z. B. Kritik, Widerspruch) steigen die Angst- und Depressions-Werte von Patienten.

Fazit: Auch in sozialen Netzwerken ist nicht alles Gold, was glänzt. Für soziale Beziehungen und soziale Unterstützung gilt: Dosis und Art entscheiden über positive oder negative Auswirkungen auf das Befinden von Patienten. Eine zentrale Rolle spielt die Qualität der sozialen Beziehungen und der sozialen Unterstützung.

Befunde für soziale Isolation und Einsamkeit

Eine aktuelle britische Langzeitstudie (über 9,6 Jahre) untersucht soziale Risikofaktoren für Krankenhaus-Ein-weisungen bei 4.478 älteren Patienten mit chronischen
Lungenerkrankungen. Sie kommt zu erstaunlich präzisen Ergebnissen.

Befund 1: Alleinleben und fehlende soziale Beteiligung von Patienten erhöhen das Risiko für häufigere Krankenhaus-Einweisungen – unabhängig von sozio-demographischen, gesundheits- und verhaltensbezogenen Faktoren.
Befund 2: Eine niedrige Zahl von sozialen Kontakten und subjektives Einsamkeitsgefühl haben keinen signifikanten Einfluss auf die Häufigkeit von Krankenhaus-Einweisungen.

Fazit: Gefragt ist der genaue Blick auf soziale Risikofaktoren. Alleinleben und fehlendes soziales Engagement sollten bei psychosozialen Interventionen erfasst, angesprochen und bearbeitet werden.

Welche Strategien zur sozialen Unterstützung sind hilfreich?

Fehlende oder unangemessene soziale Unterstützung wird als Risikofaktor für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen also immer deutlicher erkennbar. Bisher sind jedoch nur wenige Strategien zur gezielten Stärkung der Ressource „soziale Unterstützung“ etabliert.

Folgendes schrittweises Vorgehen erscheint aufgrund der Studienergebnisse sinnvoll, um eine angemessene soziale Unterstützung zu erreichen.

Schritt 1: Problembewusstsein (= Awareness) für gefährdete Personen schaffen und schärfen – vor allem bei Gesundheitsfachkräften.
Schritt 2: Von sozialer Isolation betroffene Patienten identifizieren (z. B. durch gezielte Fragen zur sozialen Anamnese) und einfühlsam ansprechen.
Schritt 3: Betroffene Patienten/Angehörige auf Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe hinweisen (durch Informationsmaterial über Selbsthilfegruppen,  Patientenorganisationen, …)
Schritt 4: In Selbsthilfegruppen und Patientenorganisationen soziale Isolation aufbrechen und gezielte soziale Unterstützung gewährleisten. Vielfältige Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Schrittes bieten sich beispielsweise beim geplanten Infotag im Jubiläumsjahr 2021 unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“.
Schritt 5: Betroffene Patienten/Angehörige zu sozialem Engagement ermutigen (durch motivierende Gesprächsführung) – vor allem mittels Hinweis auf die  gesundheitsfördernden Effekte von Aktivitäten des täglichen Lebens (= ADL) mit sozialen Komponenten (z. B. Spielen mit Enkelkindern, Gassi-Gehen mit Hunden, …).
Schritt 6: Mobilität und Transportmöglichkeiten offensiv thematisieren.
Schritt 7: Die Qualität der sozialen Beziehungen einfühlsam ermitteln und ggf. unterstützungsbedürftige Patienten/ Angehörige auf Angebote zur Verbesserung von  sozialen Beziehungen und Interaktionen hinweisen (z. B. auf Paar- oder Familien-Trainings zum Ausdruck von Gefühlen, zu angemessenem Umgang mit Feedback, Kritik,  …).
Schritt 8: Durch persönliche Gesundheits-Coaches (Case-Manager) verlässliche und effektive psychosoziale Unterstützung über den gesamten Krankheitsverlauf  garantieren (besonders bei Krisen und Zustandsverschlechterungen).

Fazit: Es gibt viele Möglichkeiten, um die sozialen Risikofaktoren zu minimieren und die sozialen Schutzfaktoren zum Wohle von Patienten mit chronischen  Lungenerkrankungen zu stärken.

Wer hat nun recht: Wilhelm Busch oder Alpha1 Deutschland?

Die salomonische Antwort auf diese Frage lautet: Es kommt drauf an!

Für einen kreativen Eigenbrötler wie Wilhelm Busch war die selbstgewählte „Einsamkeit“ (besser: die selbstbestimmte Reduktion sozialer Kontakte auf das unbedingt notwendige Mindestmaß) offensichtlich gesundheitsfördernd und lebensverlängernd. Wilhelm Busch starb – ohne erkennbare chronische Erkrankung – nach wenigen Krankheitstagen im Alter von knapp 76 Jahren.

Für einen introvertierten (= zurückhaltenden, in sich gekehrten) Alpha-1-Patienten gilt eher: Wenige (aber stärkende und angemessen agierende) soziale Kontakte und selbstbestimmtes, dosiertes soziales Engagement wirken positiv auf Befinden und Krankheitsverlauf.

Für einen extravertierten (= kontaktfreudigen, aufgeschlossenen) Alpha-1-Patienten gilt vermutlich: Angemessene Unterstützung durch ein weitgespanntes soziales Netzwerk und lebhaftes eigenes soziales Engagement zeigen positive Effekte auf Befinden und Krankheitsverlauf.

Diese differenzierte Betrachtung und Bewertung kann hoffentlich dazu beitragen, dem Motto von Alpha1 Deutschland für das Jubiläumsjahr 2021 mit begründeter Überzeugung zuzustimmen: „Gemeinsam sind wir stark

Die Ausführungen können aber hoffentlich auch dazu beitragen, sogar eingefleischten „Gemeinschaftstieren“ ein Lächeln beim Lesen des Gedichtes von Wilhelm Busch
zu entlocken …

Für Interessierte hier noch die verwendeten Publikationen zum Nachlesen:

  • Metting, E. I., Schrage, A. J., Kocks, J. W., Sanderman, R., & van der Molen, T. The forgotten social implications of asthma and Chronic Obstructive Pulmonary Disease: a focus group study.
  • Lenferink, A., van der Palen, J., & Effing, T. (2018). The role of social support in improving chronic obstructive pulmonary disease self-management.
  • Bu, F., Philip, K., & Fancourt, D. (2020). Social isolation and loneliness as risk factors for hospital admissions for respiratory disease among older adults. Thorax.
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