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Marion Wilkens, Alpha1 Deutschland e.V., so erschienen im Alpha1-Journal 1/2022.

„Unter Neugeborenenscreening versteht man ein in der Regel national konzipiertes Programm zur Reihenuntersuchung an Neugeborenen. Hierbei soll auf bestimmte angeborene Stoffwechsel- und Hormonerkrankungen getestet werden, bei denen eine präventive Behandlung möglich ist und Folgeschäden durch den Beginn der Behandlung vor Einsetzen der Krankheitserscheinungen vermieden werden können.“ So heißt es bei Wikipedia.

Kann man denn überhaupt präventiv behandeln bei einem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel? Klar, da fallen uns sofort Nichtraucher-Programme und der Hinweis auf ein aktives Leben ein, was als Vorsorge für unsere Alpha-Kinder und Jugendlichen von großer Wichtigkeit wäre.

Die Herausforderung ethischer Aspekte

Vor vielen Jahren sind wir bereits an die Ethik-Kommission herangetreten und haben uns eine Abfuhr geholt. Seitdem gärt das Thema leise und stetig in unseren Köpfen und wir fragten uns immer wieder einmal, warum man nicht einfach alle Babys auf Alpha-1-Antitrypsin-Mangel testet. Ein Projekt der ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) zu diesem Thema kam für uns gerade recht, denn wir wollten verstehen, ob sich ein Einsatz unsererseits hierfür vielleicht doch lohnt.

Als Erstes mussten wir lernen: Gibt es keine Behandlung, macht es auch keinen Sinn zu testen — aber was bedeutet das genau? Wir haben doch eine Behandlung, u. a. Sprays und Substitution, reicht das denn nicht aus?

In der allgemeinen Erklärung für Menschenrechte haben die Vereinten Nationen proklamiert, dass „Kinder ein Recht auf besondere Fürsorge und Unterstützung“, und ebenfalls „ein Recht auf Nichtwissen“ haben. Dieser Widerspruch macht es uns schwer, ein Recht für ein Neugeborenenscreening auf Alpha-1 durchzusetzen.

Aber gehen wir einen Schritt zurück zur ursprünglichen Definition. Hier gelten die zehn Screening Prinzipien von Wilson und Jungner. Diese lassen sich vier Gesundheitssystem-Bereichen zuordnen und sind Entscheidungskriterien, also kritische Fragen, die zur Überprüfung der Sinnhaftigkeit von Screening Programmen dienen. Zunächst fragt man nach der Zielerkrankung, nach der gescreent werden soll, wichtig ist auch die Verlässlichkeit des Diagnosetests, die Frage nach der Behandelbarkeit und letztlich der Gesamtbilanz.

Die zehn Prinzipien des Wilson-Jungner-Screenings

Die zehn Prinzipien, die Wilson und Jungner bereits in einem WHO-Bericht von 1968 als Entscheidungskriterien über die Angemessenheit eines Screenings/Präventionsprogramms definiert haben, lauten:

  1. Die Erkrankung sollte ein wichtiges Gesundheitsproblem darstellen.
  2. Es sollte eine anerkannte Therapie für nachweislich erkrankte Patienten geben.
  3. Es sollten Einrichtungen für Diagnose und Therapie vorhanden sein.
  4. Es sollte eine erkennbare Phase der Latenz oder Frühsymptomatik geben.
  5. Es sollte ein geeignetes Test- oder Unter­suchungsverfahren geben.
  6. Die Tests sollten für die Bevölkerung akzep­tabel sein.
  7. Der biologische Erkrankungsverlauf, einschließlich des Übergangs von der Latenzphase zur diagnostizierten Erkrankung, sollte hinreichend verstanden sein.
  8. Es sollte vereinbarte Grundsätze dafür geben, welche Fälle behandelt werden.
  9. Die Kosten (einschließlich Diagnose und Therapie der diagnostizierten Fälle) sollten in einem wirtschaftlich ausgewogenen Verhältnis zu den möglichen Kosten der medizinischen Versorgung insgesamt stehen.
  10. Die Fallerkennung sollte ein kontinuierlicher Vorgang sein und kein „ein-für-alle-Mal“-Projekt.

Quelle: Wilson & Jungner (3. Wilson J, Junger G. Principles and practice of screening for disease. Geneva: World Health Organization; 1968.

Welche Erkrankungen werden bei uns in Deutschland bisher beim Neugeborenenscreening getestet?

Adrenogenitales Syndrom, Ahornsirupkrankheit, Biotini­dase­mangel, Carnitinstoffwechseldefekte, Galaktosämie, Glutarazidurie Typ I, Hypothyreose, Isovalerianazidämie, LCHAD-, VLCAD-Mangel, MCAD-Mangel, Mukoviszidose, Phenylketonurie, Tyrosinämie Typ I, Schwere kombinierte Immundefekte (SCID), Sichelzellkrankheit und Spinale Muskelatrophie.1

Ähnlich wie beim AATM handelt es sich um viele seltene Erkrankungen, von denen man noch nie gehört hat.

Ist die Definition nach Wilson und Jungner noch zeitgemäß? Was gibt es neben der medizinischen Seite noch für ethische Aspekte? Bedacht werden muss unbedingt, dass nicht jedes Kind mit PiZZ unweigerlich erkrankt. Ist eine mögliche Stigmatisierung also der richtige Weg?

Was ist z. B. mit dem Thema Versicherungen, nehmen sie Kinder mit einer genetischen Disposition überhaupt auf? Oder ist da „Nichtwissen“ besser? Nach wie vor haben wir niemanden gefunden, der über dieses heikle Thema referieren möchte. Die Versicherungen scheinen keinen klaren Regeln zu unterliegen, oft klingt es nach Willkür, was dafürspricht, dass sich niemand öffentlich aus dem Fenster hängen möchte.

Wir werden das Projekt der ACHSE weiter begleiten. Die derzeitigen Behandlungen (Sprays und Substitution) rechtfertigen ein Screening zwar nicht – sie sind nicht präventiv und können unsere Erkrankung nicht aufhalten, sondern behandeln die Symptome oder verlangsamen den Lungenabbau. Aber wenn die Forschung eine Möglichkeit findet, das falsch gefaltete Protein zu entfalten und/oder es sauber aus der Leber auszuschleusen, haben wir dann nicht ein Argument für ein Neugeborenenscreening?

Erfüllte Kriterien: Auf dem Weg zu einer umfassenden Prävention beim Alpha-1-Antitrypsin-Mangel

Viele Punkte der zehn Screening-Prinzipien erfüllen wir bereits heute: Wir haben einen guten Nachweis der Erkrankung, gute Zentren für die Versorgung, die Kosten der Prävention (u. a. Rauchstopp) sind deutlich günstiger als Behandlungskosten und wir haben Richtlinien zur optimalen Behandlung (wenn auch noch keine eigenen Leitlinien in Deutschland).

Herausforderungen und Bedenken: Die Unsicherheit im Umgang mit dem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel

Leider aber verstehen wir noch immer nicht, wer erkrankt und wer nicht. Auch vergessen wir in der Diskussion oft, was es mit Kindern und Eltern macht: Angst ist kein guter Begleiter. Sehen Eltern, mit dem Wissen um einen Gendefekt, in jedem Husten ein erstes Anzeichen des Alpha-1-Antitrypsin-Mangels? Können Kinder mit dem Wissen um ihren Mangel „normal“ aufwachsen? Nichtrauchen ist ein wichtiges Argument für die frühe Diagnose, aber ist Nichtrauchen nicht sowieso für alle Kinder und Jugendlichen gesünder? Ist nicht auch ein aktives Leben für alle Kinder der richtige Weg, um gesund groß zu werden? Diese beiden Argumente rechtfertigen zum heutigen Zeitpunkt wohl tatsächlich, nicht ins Neugeborenenscreening aufgenommen zu werden.

Wer tiefer einsteigen möchte, dem empfehlen wir folgende Lektüre:

WHO: Vorsorgeuntersuchung und Screening: ein kurzer Leitfaden, letzter Zugriff 24.01.2024.

 

 

 

Quellen
1. Apotheken Umschau, letzter Zugriff 24.01.2024.

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