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Monika Tempel, psychopneumologie.de. So erschienen im Alpha1-Journal 1/2022.

Sollten Patienten mit Atemnot-Ängsten Vermeidung immer vermeiden – oder besser ‚gezielt‘ vermeiden?

Vermeidung immer meiden!

So etwa könnte man salopp formulieren, was Verhaltenstherapeuten der „alten Schule“ Patienten mit Ängsten dringend raten. „Du darfst vor Deiner Angst nicht davonlaufen! Du musst mitten durch die Angst gehen!“ Das funktioniert bei Spinnen-Phobie recht gut – mitunter auch bei der Angst, über einen weiten Platz zu gehen, ohne ohnmächtig zu werden. Doch wie kann ein „Weg mitten durch die Angst“ aussehen, wenn das Problem eines Alpha-1-
Patienten die Atemnot-Angst vor körperlicher Aktivität ist?

Könnte Vermeidung bei Atemnot-Angst funktionieren?

Neuere Studien zu Angst und Vermeidung stellen zumindest die Frage, ob Vermeidung unter bestimmten Voraussetzungen eine sinnvolle Strategie zur Bewältigung von ausgeprägten Ängsten sein kann. Die Forscher unterscheiden sogenanntes fehlangepasstes Vermeiden (= maladaptive avoidance) von angepasstem Vermeiden (= adapative avoidance). Zu den angepassten Vermeidungs-Strategien zählen sie beispielsweise:

  • Vermeidung in Gestalt von loslösendem Bewältigungsverhalten (= disengagement)
  • Vermeidung durch Flucht
  • Proaktive Vermeidung durch vorausschauendes Handeln
  • Vermeidung durch rückwirkendes Sicherungsverhalten

Hört sich kompliziert an – ist aber anhand von Beispielen sehr einleuchtend.

Loslösendes Bewältigungsverhalten nutzt z. B. die Acceptance-Commitment-Therapy (= ACT) bei ihren Übungen zur Distanzierung. Wenn Du bei Angstgefühlen einen Schritt zurücktrittst und die ängstigende Situation gewissermaßen aus der Beobachter-Perspektive beschreibst, führt das in der Regel zu einer emotionalen Beruhigung.

Auch die Bildschirm-Technik ist eine Distanzierungsübung. Dabei stellst Du Dir vor, wie Du die ängstigende Situation mit der Fernbedienung in der Hand auf einem Monitor abspielst. Je nach Deinem Befinden kannst Du die Szene anhalten, vorspulen, zurückspulen, in Zeitlupe oder im Zeitraffer laufen lassen. Vermeidung durch Flucht kann durchaus angemessen sein, wenn sie Dich vor einem wirklichen Schaden bewahrt. Bei proaktiver Vermeidung versuchst Du durch vorausschauendes Handeln, ängstigende Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. sie abzumildern.

Rückwirkendes Sicherungsverhalten lässt sich in Zeiten einer Pandemie sehr anschaulich beschreiben. Das häufigere Händewaschen ist momentan ein angemessenes Vermeidungsverhalten. In Nicht-Pandemie-Zeiten kann Hände­waschen in übertriebenem Ausmaß ein Zeichen für eine Ansteckungs-Angst sein.

Was hat Vermeidung mit der Atemnot-Angst vor körperlicher Aktivität zu tun?

Alle Behandler sind sich einig, dass Inaktivität die körperliche und psychische Gesamtsituation bei fast allen Atemnot-Erfahrungen verschlechtert.

Monika Tempel

Aktiv sein und angepasst vermeiden: die Mischung macht‘s!

Atemnot als sinnvoller „Vermeidungsmechanismus“ schützt Dich vor der realen Gefahr der Überforderung.

Atemnot beim „Dran denken an eine körperliche Belastung“ ist das Ergebnis einer angstgetriggerten und angstverstärkenden gelernten Verknüpfung (prior). Durch eine unangenehme Erfahrung sind in Deinem Gehirn Verbindungen zwischen möglichen Auslösesituationen, Angst und Atemnot-Erfahrung entstanden. Leider handelt es sich meist um Situationen, die für die Erhaltung Deiner Alltagsfähigkeiten (= ADL) notwendigerweise trainiert werden müssen.

Wie soll angemessene Aktivität bei Atemnot-Angst in der Praxis funktionieren?

Die gute Nachricht: Studien zeigen, dass es möglich ist! Die sehr gute Nachricht: Du kannst nur gewinnen durch ein dosiertes Training der ADL – nämlich folgendes:

  • ein Gefühl der Kontrolle
  • weniger Atemnot beim „Drandenken“
  • weniger Angst in der konkreten Situation

Wie gelingt das? Mittels Techniken, die das Gefühl der Kontrolle durch Vermeidung von Atemnot erhöhen und dabei offensichtlich zu einer „Entknotung“ der gelernten Verknüpfungen im Gehirn beitragen.

Welche angepassten Vermeidungsmuster nutzen die Techniken des dosierten Trainings? Vermutlich führen die folgenden Techniken zu einem erhöhten Gefühl der Kontrolle und damit zu reduzierter Atemnot-Angst:

  • Distanzierung (durch Beobachter-Übung in der Situation und im Vorfeld des Trainings)
  • Flucht bei realer Verschlechterung (z. B. bei drohender Exazerbation – dazu solltest Du die Unterscheidungs-Übung beherrschen: Ist es Angst oder ist es meine Lunge?)
  • Proaktive Vermeidung durch vorausschauendes Erarbeiten der Einheiten des dosierten Trainings der ADL (z. B. Treppensteigen mit individuellem Rhythmus und Einsatz von Widerstandsatmen)
  • Rückwirkendes Sicherheitsverhalten durch Nachspüren (z. B. „Sprech-Test“: Kann ich während und nach der Übungs-Einheit ohne Atemnot eine Unterhaltung führen?)

Aber Vorsicht: Wunderglaube ist keine (!) angepasste Vermeidung!

Das hast Du sicher inzwischen schon erkannt. Trotzdem – hier noch einmal der Hinweis: Es gibt verschiedene Arten von Vermeidung. Vermeidungsverhalten ist nicht immer kontraproduktiv. Kontraproduktiv ist jedoch der Wunsch, Probleme sollten „wie durch ein Wunder“ auf magische Art und Weise verschwinden.

Denn nur das regelmäßige Training der ADL macht Dich nach und nach zum Meister der Stufen!

Was tun, wenn „alles“ nicht hilft?

Manchmal kommen die nicht-medikamentösen Ansätze bei Atemnot-Ängsten in Zusammenhang mit körperlicher Aktivität an ihre Grenzen.

Dann empfehlen Pneumologen u. a. Opioide, um die Atemnot-Wahrnehmung zu beeinflussen. Opioide zeigen hauptsächlich Effekte auf die automatische Atmungs-Regulation (via Hirnstamm).
Neuere Studien legen allerdings nahe, dass Opioide auch auf das Zusammenspiel zwischen gelernten Verknüpfungen (priors) und vorweggenommener Atemnot einwirken.

Sie mindern im Versuchsansatz bei gesunden Probanden die Wahrnehmung der Unangenehmheit von Atemnot. Dies geschieht offenbar durch Aktivierung des körpereigenen Opioid-Systems (üblicherweise bezeichnet als „Endorphine“).

Zugegeben: Bei der Anwendung von Opioiden zur Behandlung von Atemnot ist kluges Abwägen angebracht. Dennoch: Dieser sehr spezielle Aspekt der Beeinflussung von gelernten Verknüpfungen verdient es, genauer erforscht zu werden. Bei erfolgversprechenden Ergebnissen kann er unter Umständen gezielter für Interventionen genutzt werden zum Wohle von Patienten mit Atemnot-Angst vor körperlicher Aktivität.

Zum Weiterlesen für Interessierte

Im Blog auf meiner Website „Psychopneumologie.de“ gibt es zwei Beiträge, die sich in allgemein verständlicher Form mit dem Thema „Atemnot-Ängste“ intensiver befassen:
Psychopneumologie Lexikon: A wie Atemnot-Ängste
Atemnot-Ängste bei COPD: Eine neue Mind-Body-Intervention zielt auf Atemmuster und Atemwahrnehmung

Die folgenden Fachartikel sind leider nur in englischer
Sprache verfügbar:

  • Hanania, N. A., & O‘Donnell, D. E. (2019). Activity-related dyspnea in chronic obstructive pulmonary
    disease: physical and psychological consequences, unmet needs, and future directions. International journal of chronic obstructive pulmonary disease,
    14, 1127.
  • Herigstad, M., Faull, O. K., Hayen, A., Evans, E., Hardinge, F. M., Wiech, K., & Pattinson, K. T. (2017). Treating breathlessness via the brain: changes in brain activity over a course of pulmonary rehabilitation. European Respiratory Journal, 50(3).
  • Hayen, A., Wanigasekera, V., Faull, O. K., Campbell, S. F., Garry, P. S., Raby, S. J., … & Pattinson, K. T. (2017). Opioid suppression of conditioned anticipatory brain responses to breathlessness. Neuroimage, 150, 383-394.

Ich wünsche allen Mitgliedern der Alpha1-Gemeinschaft Kraft und Zuversicht für die Bewältigung der zahlreichen Herausforderungen in diesen ganz besonderen Zeiten.

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